Spätes Bestreiten
Ein damals 23-Jähriger soll ein 14-jähriges, psychisch labiles Mädchen zweimal, als es ihn jeweils besucht hatte, mit den Händen missbraucht und misshandelt haben. Im Ermittlungsverfahren erklärte er, an eine solche Situation könne er sich nicht erinnern, gegenüber einem psychiatrischen Sachverständigen bestritt er die Vorwürfe. Am ersten Tag der Hauptverhandlung berief sich der Angeklagte auf sein Schweigerecht. Nachdem das mutmaßliche Opfer als Nebenklägerin ausgesagt hatte, wies er am zweiten und dritten Verhandlungstag die Anschuldigungen zurück. Erst gegen Ende des Verfahrens habe er sich zur Sache eingelassen. Das Landgericht verurteilte ihn vor allem auf Grund der Angaben des Opfers wegen sexueller Nötigung in Tateinheit mit Körperverletzung und wegen Vergewaltigung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren, zwei Monaten und drei Wochen.
Recht auf Schweigen
Diesen Schuldspruch verwarf der Bundesgerichtshof in einem heute veröffentlichten Beschluss. Das Landgericht habe in unzulässiger Weise aus dem anfänglichen Schweigen nachteilige Schlüsse gezogen, schreibt der 1. Strafsenat. Der Grundsatz, dass niemand im Strafverfahren gegen sich selbst auszusagen brauche, sei ein notwendiger Bestandteil eines fairen Verfahrens: „Es steht dem Angeklagten frei, ob er sich zur Sache einlässt oder nicht zur Sache aussagt“. Dies unterstreichen die Richter mit Hinweis auf § 136 Abs. 1 S. 2 und § 243 Abs. 5 S. 1 StPO. „Der unbefangene Gebrauch dieses Schweigerechts wäre nicht gewährleistet, wenn der Angeklagte die Prüfung und Bewertung der Gründe für sein Aussageverhalten befürchten müsste.“ Deshalb dürften weder aus einer durchgehenden noch aus einer anfänglichen Aussageverweigerung – und damit auch nicht aus dem Zeitpunkt, zu dem sich ein Angeklagter erstmals einlässt – nachteilige Schlüsse gezogen werden.
„Taktisches Aussageverhalten“
Den obersten Strafrichtern zufolge hat die Jugendschutzkammer in Waldshut-Tiengen gegen diesen Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit verstoßen. So habe sie dem Mann in der schriftlichen Beweiswürdigung ein „ausgesprochen taktisches Aussageverhalten“ vorgehalten. Der von ihm gewählte „Einlassungszeitpunkt“ sei „auffällig“ – trotz des rund einjährigen Strafverfahrens habe er sich erst näher geäußert, nachdem die Nebenklägerin in der Hauptverhandlung vernommen worden sei und einen „unerwartet stabilen Eindruck hinterlassen“ habe. Die Strafkammer habe hierdurch den Eindruck gewonnen, der Angeklagte habe mit Absicht die ihm am ersten Hauptverhandlungstag eingeräumte Gelegenheit für eine Einlassung zur Sache verstreichen lassen. Vermutlich in der Hoffnung, die Nebenklägerin werde aufgrund ihrer psychischen Belastung gar nicht in der Lage sein, in der Hauptverhandlung eine „brauchbare“ Aussage zu machen, habe er deren Aussage abgewartet, damit er seine eigene Einlassung entsprechend anpassen könne. Seine „eindeutig taktisch motivierten Angaben“ hätten zwar keinen Beleg für dessen Schuld erbracht. Seine Einlassung habe jedoch auch keinen positiven Erkenntniswert, zitiert der BGH weiter aus der Begründung der Vorinstanz.
Zeitpunkt spricht nicht gegen Richtigkeit
Dazu die Karlsruher Richter: „Mit dieser Würdigung hat das Landgericht rechtsfehlerhaft darauf abgestellt, dass der Zeitpunkt der Einlassung des Angeklagten gegen deren Richtigkeit spreche.“ Es habe nicht – was für sich genommen zulässig gewesen wäre – darauf abgehoben, dass er seine Darstellung an die vorherigen Aussagen des Mädchens habe anpassen können. Vielmehr habe es aus dem vom Angeklagten gewählten Einlassungszeitpunkt auf dessen Verteidigungstaktik geschlossen und seiner „eindeutig taktisch motivierten“ Einlassung einen geringeren Wert zugemessen.
„Teileinlassung“ kann zulässiges Beweisanzeichen sein
Auch ein Fall einer „Teileinlassung“, die an sich einer Beweiswürdigung zugänglich sei, liege hier nicht vor. Das pauschale Bestreiten des Tatvorwurfs im Ermittlungsverfahren sei einem Schweigen gleichzusetzen. Und auch unter dem Gesichtspunkt eines „Teilschweigens“ seien keine negativen Schlussfolgerungen erlaubt gewesen. Denn: „Das teilweise Schweigen eines Angeklagten darf als Beweisanzeichen zu seinem Nachteil nur verwertet werden, wenn dieser im Rahmen einer Einlassung zu einem bestimmten, einheitlichen Geschehen zu dem betreffenden Teilaspekt auch auf konkrete Nachfrage hin keine Antwort gegeben hat oder nach den Umständen Angaben zu dem verschwiegenen Punkt zu erwarten gewesen wären, andere mögliche Ursachen des Verschweigens ausgeschlossen werden können und die gemachten Angaben nicht ersichtlich lediglich fragmentarischer Natur sind.“
„Wer einmal lügt…“ gilt nicht
Die neue Jugendschutzkammer im Südwesten von Baden-Württemberg weist die höchste Strafinstanz allerdings auch darauf hin, dass die einzelnen Beweisergebnisse nicht nur isoliert gewertet, sondern in eine Gesamtwürdigung eingestellt werden müssten. Dabei könne sie auch eingehender als bisher die „zutage getretenen Widersprüche“ in den Angaben der Nebenklägerin würdigen. Aber zugleich stellte der BGH ein weiteres Warnschild für die künftige Tatsacheninstanz auf: „Bedenklich“ sei die Erwägung des Landgerichts gewesen, der Einlassung des Angeklagten habe es auch deshalb keinen Glauben schenken können, „weil dieser außerhalb strafrechtlicher Ermittlungsverfahren in zwei Situationen die Unwahrheit gesagt habe, um sich in einem positiven oder zumindest interessanten Licht darzustellen“.